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Drei Bundestrainer im Interview: „Es war kein verlorenes Jahr!“
Das Jahr 2020 wird als ein ganz besonderes in die (Sport-)Geschichtsbücher eingehen, das gilt auch für den Bogen- und Schießsport. Nicht, weil es außerordentliche sportliche Erfolge innerhalb des DSB zu feiern gab, sondern weil aufgrund der Corona-Pandemie nahezu das gesamte Jahr, inklusive der Olympischen Spiele in Tokio, sportlich nicht stattfand. Die drei Bundestrainer Barbara Georgi (Pistole), Oliver Haidn (Bogen) und Axel Krämer (Skeet) berichten im ausführlichen Interview von ihren Erlebnissen sowie geben einen Ausblick auf 2021.
Das Jahr 2020 ist bald vorüber und verlief ganz anders als viele erwartet haben. Wie seid ihr mit der Situation umgegangen, wie seht ihr das Jahr im Rückblick?
Georgi: „Nachdem feststand, dass die Olympischen Spiele verlegt werden, haben wir das Jahr neu geplant und den Sportlern erläutert, dass man die neue Situation annehmen und das Beste daraus machen muss. Gerade in dieser Situation war unsere Psychologin Rita Regös wieder eine große Hilfe für uns. Die meisten Sportler konnten mal ganz runterfahren und ohne Gewissensbisse richtig regenerieren. In dieser Zeit wurde viel Athletiktraining gemacht. Ab Mai konnte dann wieder mit dem Stützpunkttraining begonnen werden, im August haben wir zwei Lehrgänge durchgeführt und uns auf die drei Sichtungen im September/Oktober vorbereitet. Ich glaube, wir alle haben den ersten Lockdown sehr gut überstanden. Die Sportler hatten wieder Spaß am Training und sich sehr motiviert auf die Sichtungen vorbereitet.
In den Monaten November/Dezember wurde es dann für alle wieder etwas schwieriger, die Motivation hochzuhalten. Erst die Absage der Bundesliga, dann durften keine zentralen Maßnahmen mehr durchgeführt werden, zum Glück aber das Stützpunkttraining. Dann wurden die ersten internationalen Wettkämpfe abgesagt und die EM-Qualifikation um sechs Wochen auf Ende Januar verlegt. In dieser Phase war es schon sehr schwer die Motivation der Sportler, aber auch meine Motivation, hochzuhalten. Doch ich muss allen Sportler und den Trainern zu Hause bzw. an den Stützpunkten ein großes Kompliment machen. Bisher haben alle sehr gut trainiert, die Stimmung ist gut und die Leistungen teilweise beeindruckend. Die "Treffen" der Nationalmannschaft liefen in Zeiten, wo wir uns nicht sehen konnten, per Zoom ab, ein ganz neues Medium für uns alle.“
Haidn: „Das Jahr 2020 war natürlich ganz anders als jedes andere Jahr zuvor. Dennoch konnten wir 2020 - gerade in Hinblick auf die Trainingsumfänge - auch gewinnbringend nutzen. Wir haben stets versucht gemeinsam den Blick nach vorn zu richten und das Positive in den Vordergrund zu rücken, nämlich uns noch besser - und in Ruhe - auf die Olympischen Spiele vorbereiten zu können.“
Krämer: „Es begann alles nach Plan, die Ziele waren klar definiert und vor allem hatten sich die Sportler mit diesen identifiziert - wir brauchten weitere Quotenplätze für Tokio. Einen hatten wir im "Sack", wir wollten aber mehr, und die Leistungsvoraussetzungen der Spitzenkader waren da! Weltcupsieg im März 2020 durch Nadine (Messerschmidt) und auch Tilo (Schreier) und Sven (Korte) im Anschlussbereich - alles richtig gemacht!
Dann das Bröckeln der Termine, Absagen am Fließband - plötzlich gab es keine Ziele mehr für 2020! Motivationsverlust bei Sportlern und Trainern zulassen oder alternative Ziele setzen? Was haben wir nun aus dieser Situation gemacht? Aus der notwendigen Distanz betrachtet, haben wir kein Jahr verloren, die Ziele haben sich geändert, plötzliche Freiräume wurden genutzt, das betrifft sowohl den Sport als auch den privaten Bereich! Die Batterien bei Sportlern und Trainern wurden neu geladen, neue Reize gesetzt und deutlich mehr Techniktraining absolviert - der Wirkungsgrad wird sich zeigen! Die Schusszahlen liegen bei unseren Leistungsträgern deutlich über denen der "coronafreien" Jahre - alles richtig gemacht!“
Fast alle Maßnahmen und Wettkämpfe - als Höhepunkt die Olympischen Spiele - konnten nicht stattfinden. Ist 2020 für euch ein verlorenes Jahr?
Georgi: „Nein es war kein verlorenes Jahr. Die Sportler konnten an ihren Reserven arbeiten, einige Sportler haben ab April ihre berufliche Ausbildung intensiviert, und andere Sportler haben Ihre gesundheitliche Situation verbessert. Also war es kein verlorenes, aber ein sehr besonderes Jahr, welches viel Geduld, Flexibilität und Selbstdisziplin erforderte. Auch dies mussten manche Sportler erst lernen. Die meisten Sportler hatten im Herbst ein sehr gutes Leistungsniveau, sodass sie mit diesem höheren Niveau das neue Olympiajahr beginnen können. Leider fehlen uns nun im Herbst/Winter die Wettkämpfe.“
Haidn: „Das Jahr 2020 war kein verlorenes Jahr. So konnten wir beispielsweise sehr umfangreich im Bereich des Techniktrainings mit allen Olympiakader- und Perspektivkader-Athleten arbeiten. Andererseits haben wir auch gesehen, welche Athleten noch langfristig für Wettkämpfe motiviert sind.“
Krämer: „Die Frustration war zu Beginn bei allen spürbar, ob nun Trainer oder Sportler. Ein gut geplantes Jahr war einfach ausradiert! Hier spielt natürlich sowohl das biologische als auch sportliche Alter eine wesentliche Rolle: Die Berufsorientierung stand im Raum, Familienplanung etc. Unsere älteren Sportler konnten sich ein erfolgreiches Karriere-Ende nach Olympia 2020 vorstellen und haben ihren Fokus dementsprechend ausgerichtet. Das betraf vor allen Dingen Sportler, die nicht dem Bereich "Behördensportler" zuzuordnen waren. Wenn man erfolgreich in eine Saison startet und dann wird einfach das Licht ausgeschaltet, kommt sofort der Gedanke eines verlorenen Jahres! Es hat schon etwas Zeit benötigt, um unsere Sportler und Trainer auf die neuen Aufgaben und Ziele auszurichten! Wettkämpfe waren notwendig, und das nicht nur für unsere Spitzenleute, nein, auch für die Schüler und Jugendlichen! Ein verlorenes Jahr für unsere Leistungsträger - nein! Ein verlorenes Jahr für unsere Übergangsjunioren und Schüler - ja!“
Wir wollen allen zeigen, dass wir gut drauf sind, und die Sportler brennen darauf, dies auch zu beweisen!
Wie schwer war und ist es, sich selbst, aber vor allem die Sportler zu motivieren?
Georgi: „Für die jungen Sportler ist die Verschiebung die Chance, sich ein Jahr länger auf die Qualifikation für die Olympischen Spiele vorzubereiten. Für diese Sportler ist dies schon eine große Motivation. Für andere Sportler, die im Februar/März schon so richtig gut in Form waren, war die Verlegung natürlich erst einmal enttäuschend. Durch das regelmäßige Stützpunkttraining ist wieder etwas Normalität und Regelmäßigkeit in das Sportlerleben gekommen und schon dadurch wurde die Motivation angekurbelt. Natürlich wurden auch viele Gespräche geführt und kurzzeitig - als die Lehrgänge und Sichtungen durchgeführt wurden - war es ja wieder fast normal. Ich glaube, die drei Sichtungen waren ein wichtiger Baustein für die Motivation, da sich die Sportler endlich wieder untereinander messen konnten, also das tun, weswegen sie hart trainieren. Um bei den Leistungskontrollen etwas mehr Biss reinzubekommen, haben wir im Kader einen Fernwettkampf installiert. Die Sportler bekommen jede Woche eine neue Wettkampfaufgabe. Ich bekomme die Ergebnisse und am Wochenende erstelle ich ein Ranking der Team- und Einzelwertung. So gewinnen die Kontrollwettkämpfe etwas mehr an Bedeutung, und die Teammitglieder motivieren sich gegenseitig.“
Haidn: „Persönlich war es nicht schwierig - das Ziel der Spiele hat sich ja letztendlich nur verschoben. So sahen es auch die meisten Sportler. Der DSB hat unter Führung von Gerhard Furnier und Jörg Brokamp den Deutschland-Cup initiiert. Christel Dahm ihrerseits hat seitens der Finanzabteilung immer versucht, finanzielle Hilfen zu geben. Ich bin dankbar, dass wir zudem mit unserem Cheftrainer Thomas Abel immer gemeinsam nach Lösungen gesucht haben, Trainingsersatzmöglichkeiten für die Sportler zu finden. Gerade auch die Stützpunkte in Berlin, München und Pforzheim haben uns hier bestmöglich zu unterstützen versucht. Auch unsere Psychologen und unser Athletenmanagement standen mit Gregor Kuhn, Grit Reimann und Hanne Aslanidis immer parat. Hier war von allen Seiten viel Flexibilität notwendig. Wir haben aber festgestellt, dass hier - gerade in dieser Krise - ein sehr großes Miteinander zu spüren war. Sportler, Trainer, Funktionäre und verschiedene am Leistungssport beteiligte Personen des DSB und weitere Institutionen, wie DOSB und BMI zogen hier an einem Strang in eine Richtung. Das war - gerade auch für die Motivation der Athleten - sehr wichtig.
Ich bin stolz auf unsere Mannschaft, dass nahezu alle Sportler im Vergleich zu den vorherigen Jahren ihre Trainingsumfänge um mehr als 20% steigern konnten - allen voran Elisa Tartler und Jonny Vetter mit fast 90.000 Pfeilen und Lisa Unruh mit beinahe 300 Athletikstunden. Daneben schafften es fast alle Athleten im Rahmen der wenigen Wettkämpfe trotzdem ihre persönliche Bestleistung zu verbessern. Mit Florian Unruh haben wir auch einen neuen Weltrekordhalter in der 2x720 WA; Max Weckmüller schoss Weltjahresbestleistung in der WA 720, und auch Katharina Bauer hat einen Europarekord in der 2x720 WA erzielt. Im Vorfeld des ersten Lockdowns hat Florian zudem das Hallenweltcupfinale und Michelle Kroppen den Weltcup in Las Vegas gewonnen. Cedric Rieger wurde hier ebenso hervorragender Dritter. Ende November hat dann auch Felix Wieser in der bereits neuen Saison seinen ersten Weltcup in der Halle siegreich beendet.“
Krämer: „Man sucht zu Beginn für sich selbst Argumente, hört in sich hinein und versucht, emotionslos die Situation zu analysieren, Wege für sich, die anderen Trainer und Sportler zu finden. Man erwartet schließlich von einem Bundestrainer, dass er Wege aufzeigt, Ziele definiert und Motivation ausstrahlt! Dazu benötigt man schon etwas Zeit! Was passiert mit den Übergangsjunioren, mit den Schülern, die nur eine Deutsche Meisterschaft in dieser Altersklasse haben. Also ist das Thema: "Olympia" zwar vom Stellenwert hoch angesiedelt, aber bei weitem nicht das einzige Problemfeld. Unsere Top Team Tokio-Kader waren relativ leicht zu motivieren, denn sie spürten ihr gesteigertes Leistungsvermögen, die reale Chance, ganz vorn zu landen. Auch wenn es nun im Jahr 2021 erst so richtig losgeht. Unsere Trainer in den Stützpunkten machten und machen eine sehr gute Arbeit, sie motivierten den Anschlussbereich!“
Wie sehr fiebert ihr dem Jahr 2021 und der Hoffnung auf Normalität entgegen?
Georgi: „Ich glaube nicht, dass so schnell Normalität eintritt. Das Jahr 2021 wird sicher auch noch von vielen Einschränkungen und Neuerungen bestimmt. Ich hoffe aber, dass wieder Wettkämpfe wie EM und internationale Wettkämpfe stattfinden, damit wir uns auf die Olympischen Spiele vorbereiten können.“
Haidn: „Wir freuen uns auf 2021, weil wir trotz aller Einschränkungen dennoch insgesamt gut trainieren konnten und zum jetzigen Stand gut vorbereitet sind. Dennoch wünschen wir uns alle mehr Normalität, die aber - wenn überhaupt - sicher erst dann gegeben ist, wenn wir wieder Wettkämpfe bestreiten und gemeinsame Trainingslager mit der ganzen Mannschaft durchführen können.“
Krämer: „Unsere Sportler zeigten 2019/20 ein deutlich gesteigertes Leistungsvermögen, die Schusszahlen wurden spürbar erhöht, die Athletik und Psychologie in den Trainingsprozess mit einbezogen. Die Umsetzung im internationalen Vergleich ist 2020 zum ersten und einzigen Weltcup in Zypern gelungen, unsere Sportler und Trainer sind "heiß"! Wir wollen allen zeigen, dass wir gut drauf sind, und die Sportler brennen darauf, dies auch zu beweisen! Normalität - was ist das eigentlich im Leistungssport?“
Was sind/wären die ersten Maßnahmen und Wettkämpfe im nächsten Jahr?
Georgi: „Im Januar findet ein Lehrgang statt, mit dem wir uns auf die EM-Qualifikation Ende Januar vorbereiten. Im Februar ist ein Wettkampf in Pilsen und ein Lehrgang geplant, und dann steht schon die EM an, wo wir noch Quotenplätze holen wollen.“
Haidn: „2021 werden wir neben dem Stützpunkttraining in Berlin, Baden-Württemberg und Bayern erste Maßnahmen in Kienbaum durchführen und dann in Abstimmung mit der sportlichen Leitung des DSB prüfen, welche Trainingsmaßnahmen z. B. in der Türkei durchführbar sind. Wenn alles gut läuft, starten wir im März die Olympiaqualifikation der Männer, einen Monat später die der Frauen. Darauf folgen dann erste internationale Wettkämpfe in Kroatien und Guatemala. Ansonsten haben wir auch einen Plan B.“
Krämer: „Leider beginnen wir schon wieder mit einer Absage, denn das geplante Klimatraining im Januar fällt aus, es ist uns ganz einfach zu unsicher! Wir gehen dafür mit dem Team nach München, mein Dank geht an den Sportdirektor des BSSB, der für uns optimale Trainingsbedingungen organisiert! Wir bereiten uns ganz gezielt in den Stützpunkten auf den ersten Weltcup der Saison vor, dieser findet bereits im Februar in Kairo statt!“
Höhepunkt sind ohne Frage die Olympischen Spiele in Tokio. Kurze Frage, klare Antwort: Finden die im nächsten Jahr statt?
Georgi: „Ja!“
Haidn: „Wir gehen derzeit davon aus, dass die Olympischen Spiele 2021 stattfinden werden, wenn auch in anderer Form als die, wie wir sie bisher kannten. An der Schießlinie bleibt aber alles beim alten - es geht darum, den Pfeil in die 10 zu schießen. Und daran arbeiten wir jeden Tag! Tokio 2021 kann kommen. Wir werden bereit sein!“
Krämer: „Wir werden Olympia 2021 in Tokio erleben! In einem für uns ganz neuen Format, aber mit denselben Leistungsansprüchen wie in normalen Olympiajahren. Die Japaner haben sich förmlich aufgerieben, um die Olympischen Spiele zu einem Fest werden zu lassen und deshalb wünsche ich mir, dass es 2021 Olympische Spiele in Tokio geben wird!“