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ISSF: „Ich habe in Korea angefangen und höre in Korea auf“
Nachdem er 1978 in Korea erstmals in den Rat der UIT (Union Internationale de Tir; ehem. Name des ISSF) gewählt worden war, tritt Olegario Vázquez Raña nach 40 Jahren im Dienste der ISSF zurück. Im Rahmen der ISSF Weltmeisterschaft im Sportschießen wurde daher am 9. September 2018 ein Abend zu Ehren von Präsident Olegario Vázquez Raña veranstaltet, am 30. November wird auf dem ISSF-Kongress in München der neue Präsident gewählt. Im Interview mit der ISSF blickt Vázquez Raña auf seine großartige Karriere zurück.
Gäste aus der ganzen Welt, darunter der IOC-Vizepräsident Zaiqing Yu und die IOC-Mitglieder John Coates und Alex Gilady, waren gekommen, um Olegario Vázquez Raña und seine einzigartige Karriere als Athlet, Verbandsvorstand und IOC-Mitglied zu würdigen. Seine Arbeit im Dienst des ISSF brachte eine nachhaltige Veränderung des Schießsports, der unter Wahrung seiner traditionellen Eigenschaften und Werte grundlegend modernisiert wurde. Unter der Führung von Präsident Vazquez Raña wurden die ISSF Weltcups, Weltcup-Finals, das olympische Quotenplatz-System, Finalrunden, elektronische Ziele, ISSF TV, alle Kommunikationssysteme und eine moderne Markenführung eingeführt, um nur ein paar Beispiele für seine Innovationen zu nennen. Dabei waren die Änderungen nie in Stein gemeißelt, und die Entwicklung wurde über die letzten zehn Jahre fortgesetzt. Mit der erneuten Anpassung der Wettkampfformate, der Einführung neuer Finals sowie zuletzt der neuen Mixed Team-Wettbewerbe ist nun absolute Geschlechtergleichheit im Schießsport erreicht.
Herr Vazquez Raña, Sie haben in den 1960er Jahren mit dem Schießsport begonnen, in den 1970er Jahren kontinentale und panamerikanische Titel gewonnen und seit 40 Jahren leiten Sie diesen Verband. Sie haben Schießanlagen und Meisterschaften auf der ganzen Welt gesehen. Wie ist die 52. ISSF Weltmeisterschaft aus Ihrer Sicht gelaufen?
Vázquez Raña: „Aktuell ist die Schießanlage von Changwon die beste der Welt. Und die 52. ISSF Weltmeisterschaft im Sportschießen war die beste Meisterschaft aller Zeiten in der Geschichte des ISSF. Ich möchte unseren koreanischen Gastgebern für ihre Arbeit und ihr Engagement danken und ihnen zu dieser erstklassigen Wettkampfveranstaltung gratulieren.“
Herr Präsident, Sie sagten einmal: „Ich habe in Korea angefangen und werde in Korea aufhören!“
Vázquez Raña: „Ja, das stimmt, ich habe 1978 hier in der Republik Korea als UIT-Ratsmitglied angefangen und höre 2018 bei der 52. ISSF Weltmeisterschaft in Changwon auf. Auch wenn meine Präsidentschaft offiziell noch bis zur Generalversammlung am 20. November in München weiterläuft, endet meine Karriere als Präsident des Verbands gefühlsmäßig hier in Korea.“
Wie haben Sie Ihre Leidenschaft für den Schießsport entdeckt?
Vázquez Raña: „Ich habe in den 1950ern mit dem Schießen begonnen. Das war eigentlich Zufall. Ein Freund von mir, ein Ingenieur, hatte mich eines Samstags zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Er hatte viele Pokale bei sich zu Hause stehen, und ich fragte ihn danach. Es stellte sich heraus, dass er Sportschütze war. Mich interessierte der Sport, und so lud er mich am darauffolgenden Sonntagmorgen zu einem Wettkampf ein. Ich ging hin, und dort wurde ich gefragt, ob ich es einmal ausprobieren wolle. Ich hatte noch nie zuvor in meinem Leben geschossen. Aber ich hatte wirklich Lust, es zu versuchen, und so nahm ich an einem 150m-Gewehrwettbewerb teil. Jemand erklärte mir, wie man schießt, und ich legte los. Später an diesem Nachmittag, nachdem das Kampfgericht die Ergebnisse ausgewertet hatte, wurde mein Name für das Stechen um den ersten und zweiten Platz aufgerufen. Das war eine der größten Überraschungen meines Lebens. Ich konnte es nicht glauben. Ich ging in das Stechen und mit ein bisschen Glück gewann ich es. Gold beim ersten Versuch! Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Waffe in meiner Hand gehalten hatte. Die Leute meinten, ich sei talentiert und solle mit dem Sport anfangen, und so fing ich an zu trainieren und der Schießsport wurde meine große Leidenschaft. Damals war ich bereits ein sehr beschäftigter Geschäftsmann, so dass ich früh am Morgen von 5:30–8:00 Uhr trainierte, weil ich um 9:00 Uhr am Schreibtisch sein musste. Nach 6 oder 7 Jahren war ich der beste Gewehrschütze Mexikos. Ich brach alle Rekorde und gewann alle Wettkämpfe. 1973 gewann ich die CAT (Confederation of the Americas)-Schießsportmeisterschaft in Mexiko-Stadt mit einem neuen Luftgewehr-Weltrekord von 392 Ringen. Zwei Jahre später, im Jahr 1975, gewann ich die Panamerikanischen Spiele, schlug meinen eigenen Weltrekord und stellte mit 393 Ringen einen neuen auf. Dazwischen nahm ich an allen Olympischen Spielen zwischen 1964 und 1976 teil.“
Auf welche Leistungen in Ihrer Wettkampfkarriere als aktiver Sportschütze sind Sie besonders stolz?
Vázquez Raña: „Besonders stolz bin ich definitiv auf meinen Sieg bei den Panamerikanischen Spielen 1975 in Mexiko-Stadt mit einem Weltrekord.“
Wann wurden Sie der Präsident des ISSF? Und wie kam es dazu?
Vázquez Raña: „Ich war ursprünglich eigentlich gar nicht daran interessiert, Teil der Verbandsleitung zu werden. Meine Leidenschaft galt dem Sport als aktiver Sportler, und das war alles. 1978 nahm ich an der ISSF Weltmeisterschaft in Seoul, Südkorea, teil. Dort war ich auch als Delegierter für Mexiko zur Generalversammlung geladen, die während der Meisterschaft abgehalten wurde. Ich war sehr beeindruckt von der gesamten Organisation dieser Sitzungen: Das war mein erstes Mal bei einer Versammlung. Als die Sitzung begann, entfachte zwischen dem Präsidenten und dem Generalsekretär eine lange Diskussion über Budgetierungsangelegenheiten. Es war ein Fachgespräch, das die 400 Delegierten im Saal kaum interessierte. Ich hob meine Hand, bat darum sprechen zu dürfen und äußerte meine Sicht der Dinge in dieser Angelegenheit. Ich lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die wesentlichen Themen: die Regeln, die Wettkämpfe, die echten Probleme im Zusammenhang mit den Athleten. Ich sagte ihnen, sie sollten den Delegierten zuhören und nicht interne Probleme besprechen. Das war sozusagen mein Einstand bei der Generalversammlung. Vielen Delegierten hatte meine Rede gefallen, und später wurde ich gefragt, ob ich nicht für das Amt des Präsidenten kandidieren wolle.“
1980 wurden Sie durch Zuruf zum ISSF Präsidenten gewählt. Heute nach 38 Jahren – warum, denken Sie, wurden Sie zum Präsidenten gewählt?
Vázquez Raña: „Ich glaube, ich habe keine besonderen Versprechungen gemacht. In all den Jahren habe ich nie Versprechungen gemacht, aber doch eine Menge erreicht. Kommen wir auf die Wahlen von 1980 zurück: Ich denke, es war der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel an der Spitze der UIT. Ich kam dort mit einer Menge Erfahrung als aktiver und erfolgreicher Schütze an. Gleichzeitig konnte ich meine unternehmerische Erfahrung in die Verwaltung des Sports einbringen. Das ordnungsgemäße, professionelle und transparente Management von Finanzen hatte für mich immer schon eine hohe Priorität. Auch mein Team spielte eine wichtige Rolle: Generalsekretär Horst Schreiber und José Antonio Fernández Arena haben mich vor der Wahl enorm unterstützt.“
Worauf sind sie heute nach 38 Jahren Amtszeit besonders stolz?
Vázquez Raña: „Der Schießsport war immer schon ein sehr traditioneller Sport. Ich habe den Sport modernisiert, die Wettkampfformate, die Abläufe und das Zählsystem – und damit seinen Olympiastatus bewahrt. Unter meiner Präsidentschaft wurden Finals eingeführt (zuvor hat es Stunden gedauert, bis die Gewinner ermittelt waren) sowie die Weltcupserie, das Quotenplatzsystem (wir waren die Ersten!), das elektronische Zählsystem und die Mixed Team-Wettbewerbe (wir haben vollständige Geschlechtergleichheit im Olympiaprogramm erreicht) und noch vieles mehr. Ich habe die Idee der Geschlechtergleichheit von Anfang an sehr begrüßt und habe mich deshalb, als die Agenda 2020 verabschiedet wurde, zu ihrer vollen Umsetzung verpflichtet. Wir wollten die vollständige Geschlechtergleichheit bis Tokio 2020 erreicht haben, dabei jedoch gleichzeitig unsere 15 olympischen Wettbewerbe behalten sowie die Gleichverteilung der Disziplinen Gewehr, Pistole und Flinte gewährleisten. Die Mixed Team-Wettbewerbe waren die beste Lösung, um dieses Ziel zu erreichen und auch den Breitensport und die Jugend mehr einzubeziehen. Es darf nicht vergessen werden, dass wir Mixed Team-Wettbewerbe schon lange vor der Agenda 2020 bei den Olympischen Jugendspielen eingeführt hatten. Das war kein leichtes Unterfangen. Es hat sehr lange gedauert. Aber ich bin sicher, dass ich einen gesunden Sport und einen gesunden Verband hinterlasse.“
Seit der Wahl 1980 wurden Sie in Ihrem Amt als Verbandsführung immer wieder bestätigt. Der Rücktritt, nachdem Sie Ihr gesamtes Leben diesem Sport gewidmet haben, ist sicher kein leichter Schritt, oder?
Vázquez Raña: „Ich habe immer wieder das Mandat als Präsident des ISSF erhalten, weil ich für die Athleten gearbeitet habe und für den Sport, den ich über alles liebe. Ich habe die Position des Schießsports innerhalb der olympischen Familie gestärkt. Gleichzeitig habe ich den Sport modernisiert. Dass ich immer wiedergewählt wurde, verdanke ich der Unterstützung der Schießsportfamilie. Doch jetzt ist es an der Zeit, sich zurückzuziehen. Ich habe mein Leben zu einem Großteil dem Sport gewidmet und möchte nun mehr Zeit mit meiner Familie verbringen. Der Schießsport wird immer ein Teil meines Lebens und meiner Träume bleiben, aber es ist einfach Zeit für meinen Ruhestand. Es ist eine schwierige Entscheidung, aber wie ich immer wieder sage: Ich glaube an Disziplin, ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht.“
Sie haben die meiste Zeit Ihrer ISSF-Karriere mit Generalsekretär Horst Schreiber verbracht. Können Sie uns etwas über Ihre besondere Beziehung zu ihm erzählen?
Vázquez Raña: „Mein langjähriger guter Freund und Partner Horst Schreiber, Generalsekretär des ISSF von 1980 bis 2010, war ein sehr versierter deutscher Rechtsanwalt. Er war ein starker Mann, dessen Verwaltungskompetenz sich in den Jahren als äußerst nützlich erwiesen hat. Er konnte Entscheidungen hervorragend umsetzen, war ein ausgezeichneter Problemlöser und wurde von allen Menschen, mit denen er zusammengearbeitet hat, sehr geschätzt. Herr Schreiber war auch jemand, mit dem ich sprechen konnte. Ich mag keine Ja-Sager, und ich habe zahlreiche Diskussionen mit ihm geführt. Manchmal hatte er recht und manchmal nicht. Am Ende zählt, dass wir hervorragend zusammengearbeitet haben. Er war mehr als ein Kollege. Er war wie ein Bruder für mich.“
Sie sind seit 40 Jahren in der Leitung des ISSF. Finden Sie, dass Sie alles für den Sport erreicht haben, was sie sich vorgenommen haben?
Vázquez Raña: „Ich bin glücklich, ich habe viele Jahre für den Sport gearbeitet und denke, dass ich die Schießsportwettbewerbe grundlegend verändert habe. Vorher war Schießen nur etwas für die Schützen selbst und ihre Familien und Freunde – ein Familiensport, wie ich immer gesagt habe. Jetzt, nach 40 Jahren, hat der Sport sich weiterentwickelt und ist gewachsen. Der Schießsport hat eine starke Position innerhalb der Olympischen Bewegung und ist ein angesehener Sport mit Millionen Anhängern und aktiven Athleten auf der ganzen Welt. Darüber hinaus ist das Durchschnittsalter unserer Spitzenschützen im Vergleich zu früher wesentlich gesunken. Ich bin sehr glücklich und zufrieden mit meiner Arbeit.“
Wie fühlt es sich an, den Verband nach so vielen Jahren zu verlassen?
Vázquez Raña: „Ich gehe zufrieden und glücklich, da ich alle meine Ziele für den Schießsport erreicht habe. Die Ergebnisse, die Anlage hier – alles, wofür ich in den letzten 40 Jahren gearbeitet habe, spiegelt sich in dieser 52. ISSF Weltmeisterschaft im Sportschießen wider. Ich hoffe, die neue Verbandsleitung wird meine Arbeit mit demselben Engagement und derselben Leidenschaft weiterführen.“