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Themenwoche: Was ist Talent und wie erkenne ich es?

20.07.2020 08:14

Jeder Verein, jeder Trainer, jeder Verband ist auf der Suche nach Talenten, die es zu entdecken und zu fördern gilt, um am Ende die Leistungen und Erfolgschancen – egal, ob auf Vereinsebene oder bei Olympia – zu verbessern. Doch wie erkenne ich Talente? Wie entwickeln sie sich zu Spitzensportlern? Wie kann ich Talente fördern?

 

Bild: DSB/ Die Talenterkennung ist eine der größten Herausforderungen für Wissenschaftler, Vereine und Verbände.
Bild: DSB/ Die Talenterkennung ist eine der größten Herausforderungen für Wissenschaftler, Vereine und Verbände.

Talenterkennung (Talentdiagnose): Woran und wie kann man Talente im Schießsport (frühzeitig) erkennen?

Nicht nur für Wissenschaftler, sondern auch für Vereine und Verbände ist die Erkennung und Förderung junger Talente die Herausforderung schlechthin. Denn während man auf den ersten Blick ein Talent als jemanden bezeichnet, der eine besondere Begabung hat, die ihn zu überdurchschnittlichen Leistungen befähigt, ist das im Sport ein wenig differenzierter zu sehen, was auch Nachwuchs-Bundestrainerin Claudia Kulla weiß: „Was uns allen so klar erscheint, ist gar nicht so leicht zu erklären, weil das schießsportliche Talent aufgrund der unterschiedlichen disziplinspezifischen Anforderungen nicht allgemein zu definieren ist.“ Für sie sei ein Talent im Idealfall eine Mischung aus relevanten Begabungen, idealen Umfeldbedingungen (z.B. elterliche Unterstützung, Trainingsstättennähe, gute Qualität der Sportausrüstung, Verfügbarkeit kompetenter Trainingsbegleitung), vorteilhaften Persönlichkeitsfaktoren (z.B. Eigenmotivation, Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Resilienz) und auffälligen Leistungen oder überdurchschnittlichen Entwicklungsfortschritten in bestimmten Zeitabschnitten. Die Schwierigkeit für Kulla: „Letzteres ist nicht auf den ersten Blick erkennbar.“

Talent ist kein statischer Begriff sondern ein dynamischer. Talent entwickelt sich.

Stefan Müller, DSB-Bundestrainer Sportwissenschaft

Auch wenn sich die Wissenschaft noch nicht ganz einig ist, inwieweit Körperbau, genetische Veranlagung, die Art des Training und psychische Eigenschaften in den Talentbegriff mitreinspielen, haben alle Definitionen in der Sportwissenschaft Folgendes gemeinsam:  Als ein Talent versteht man hier eine Person, die die sich noch in der Entwicklung zu ihrer individuellen Höchstleistung in einer Sportart befindet und von der eine künftige Entwicklung besonders hoher Leistungsfähigkeit und hoher Erfolge im Spitzensport erwartet wird. Typischerweise wird bei Talenten vor allem von Personen im Kindes- und Jugendalter gesprochen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf das Potenzial der Talente gelegt, welches es zu entwickeln gilt. Einige Wissenschaftler (z.B. Hohmann & Carl 2002) unterscheiden daher zwischen einem „engen“ und „weiten“ Talentbegriff. Der „enge“ Talentbegriff ist gekennzeichnet durch frühzeitige positive Auffälligkeit und der sportmotorischen Leistungen. Dieser Ansatz geht davon aus, dass die jungen Sportler mit den höchsten Leistungen im Kindes- und Jugendalter diejenigen sind, die auch in späteren Zeiträumen die höchsten Spitzenleistungen erreichen. Beim „weitenTalentbegriff“ werdenneben sportmotorischen Leistungen auch Merkmale des Trainings, der Persönlichkeit sowie des materiellen und sozialen Umfelds einbezogen, denen begünstigende Effekte auf das Training und seine Wirkung auf die Leistungsentwicklung zugeschrieben werden. Es wird davon ausgegangen, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen das höchste Potenzial für künftige Spitzenleistungen verkörpern, bei denen hohes individuelles sportmotorisches Leistungspotenzial mit günstigen personellen und Umfeldbedingungen für Training und Wettkampf gekoppelt sind.

Bild: DSB / Für Junioren-Bundestrainerin Claudia Kulla ist es wichtig einen passenden Rahmen für die Talente zu schaffen, der sie ganzheitlich unterstützt.
Bild: DSB / Für Junioren-Bundestrainerin Claudia Kulla ist es wichtig einen passenden Rahmen für die Talente zu schaffen, der sie ganzheitlich unterstützt.

Auch Stefan Müller, DSB-Bundestrainer Sportwissenschaft, weist mit einem Beispiel auf die Komplexität des Talentbegriffs hin: „Nehmen wir an, wir haben bei einer Sichtung zwei Schützen, die annähernd das gleiche Ergebnis schießen. Der eine Schütze (A) schießt in den zwei Wettkämpfen 605,5 und 605,6 Ringe, der andere (B) „nur“ 604,1 und 604,8 Ringe. Schütze A trainiert allerdings bereits seit fünf Jahren intensiv unter Anleitung des Landestrainers, der auch sein Heimtrainer ist, mit perfekter Ausrüstung, idealer Trainingsbedingung im Heimatverein und beinahe perfekten Analysemethoden. Schütze B kommt aus einem Verein ohne Trainer. Lediglich ein „älterer“ Schütze hat ihm nach bestem Wissen und Gewissen ein paar Sachen gezeigt. Ansonsten war er komplett auf sich gestellt und hat sich in den zwei Jahren, die er bereits schießt, quasi alles selbst in seinem wöchentlichen Training mit der Vereinsausrüstung angeeignet. Sind Sie immer noch überzeugt, wer von beiden besser geeignet ist?“ Ein Zeitpunkt sollte deswegen für Müller nur eingeschränkt über Talent oder die Besetzung von Förderstrukturen entscheiden – außer, es gehe um kurzfristige Ausscheidungen zum Wettkampf, wie etwa einer Olympiaausscheidung, wo ausschließlich die Leistung zähle. Müller ist es wichtig klarzustellen: „Talent ist kein statischer Begriff sondern ein dynamischer. Talent entwickelt sich.“

Talententwicklung: Wie entwickeln sich Talente zu erfolgreichen Spitzensportlern?

10.000 Stunden – so viele Stunden an fokussiertem, hartem Training benötigt man laut Professor Karl Anders Ericsson, um Höchstleistung zu entwickeln. Dabei kann man die Entwicklung eines Talents in drei Phasen unterscheiden: In der Einstiegsphase (Dauer: 3-6 Jahre, Alter: 6-14 Jahre) sammeln Kinder erste Kenntnisse in verschiedenen Sportarten sowie erste Wettkampferfahrung und eine stark spielerische Komponente gestaltet das Training. Es folgt die Entwicklungsphase, die wiederum bis zu sechs Jahre andauern kann (Alter: 12-19 Jahre) und in der sich bereits auf eine Hauptsportart konzentriert wird. Die Trainingsumfänge erhöhen sich und eine zunehmende Ausrichtung auf Wettkampferfolge ist zu beobachten. Bereits hier können die Talente Jugend- und Juniorenerfolge auf nationaler und internationaler Ebene feiern. Die dritte Phase wird als Hochleistungsphase oder auch Meisterschaftsphase bezeichnet (Dauer: 3-16 Jahre, Alter: ab 17 oder später), in der sich alles vollkommen auf den Trainings- und Wettkampferfolg ausrichtet, die Trainingsumfänge sich nochmals erhöhen und auch außersportliche Belange, wie Schule, Studium, Beruf und Familie dem untergeordnet werden. Der Tagesablauf richtet sich nach dem Trainings- und Wettkampfkalender und internationale Erfolge stellen sich bei den Erwachsenen ein.

 

Spitzensportler und Fußballstar Lionel Messi sagte einst zu seinem Debüt in der spanischen Profiliga: „Es dauerte 17 Jahre und 114 Tage, um über Nacht erfolgreich zu werden.“ Und auch das Markenzeichen, der angewinkelte Arm, des Weltrekordlers und Olympiasiegers Haile Gebrselassie ist nach seinen eigenen Aussagen nur dadurch entstanden, da der Läufer jeden Tag die zehn Kilometer hin und zurück zur Schule gelaufen ist – mit den Büchern unterm Arm. „Es war also auch hier kein angeborenes Talent, das nur darauf gewartet hat, im richtigen Moment angeschaltet zu werden, sondern die jahrelange Entwicklung spezieller Fähigkeiten“, so Müller, der sich immer wieder die Frage stellt: Was muss ein Sportler für diese positive Entwicklung mitbringen? Für Karl Anders Ericsson zeichnen sich diese Talente, die es an die Weltspitze schaffen dadurch aus, dass sie den Glauben besitzen, etwas lernen zu können, was ihnen heute noch schwer fällt. Sie glauben an sich und ihre Möglichkeiten. Zudem haben sie die Eigenmotivation und einen starken Antrieb lange Lern- bzw. Trainingszeiträume zu überblicken und zu bewältigen. So ist gewährleistet, dass sie nicht auf halbem Wege stehen bleiben und als „ewiges Talent“ ihr Sportlerdasein beenden. Kulla merkt ebenfalls an: „Um ein erfolgreicher Spitzensportler zu werden, ist Talent notwendig, aber leider nicht hinreichend.“

 

Oftmals würden Talente genau dann wegbrechen („Dropout“), wenn Talent nicht mehr ausreiche, um die nächste Stufe zu erreichen, sondern erhöhte Trainingsumfänge, technisches Wissen, persönlicher Erfahrungsschatz, Wettkampfeinsätze, ein Verhaltensrepertoire bei schwierigen Situationen und die Gestaltung des Trainings den Unterschied machen. „Alle Spitzensportler treffen irgendwann einmal für sich die Entscheidung, ihren Lebenslauf, zumindest in Abschnitten, der Auslotung ihres Talentes dienlich anzupassen. Sie suchen sich in ihrem Sportsystem berufliche Varianten, die eine duale Karriere ermöglichen und zeigen überdurchschnittlich viel Eigeninitiative, um ihren Erfahrungsschatz über Pluralität in Training, Wettkampf und Coaching weiter auszubauen“, erklärt die Nachwuchs-Bundestrainerin Gewehr den Unterschied zwischen Talent und Spitzensportler. Am Ende kommt es eben nicht nur auf das Talent, sondern auch auf das Umfeld, den familiären Rückhalt, das Verständnis im Freundeskreis oder des Lebenspartners, die schulischen Leistungen und die Möglichkeiten des Trainings an. Zu welchen Zeiten kann ich trainieren? Hat das Schützenheim offen? Gibt es gute Trainer und Trainingspartner? „All diese Dinge entscheiden am Ende darüber, ob sich das Talent entfaltet oder verkümmert“, verdeutlicht Müller und weist dabei auf Professor Yannis Pitsiladis hin, der seit Jahren an den Grundlagen des sportlichen Könnens forscht und dessen Konklusion sich wie folgt zusammenfassen lässt: Beste Chancen haben diejenigen mit den besten Trainingsmöglichkeiten und dem besten Umfeld, nicht die Begabtesten. Dass Talent überbewertet wird, findet auch Geoff Colvin, denn am Ende sei seiner Meinung nach nicht der mit der höchsten Ausgangsbasis vorne, sondern der, der sich am meisten entwickeln konnte.

Talentförderung: Wie kann ich Talente fördern?

Genau deshalb ist es für Kulla so wichtig als Trainer den passenden „Rahmen zu schaffen, der die Entwicklung möglichst ganzheitlich unterstützt“. Von Trainingsplanung, über die Organisation der richtigen Ausrüstung, die Beratung der Eltern und das Schaffen von geeigneten Trainingsbedingungen bis hin zu Trainings- und Wettkampfteilnahmen, die über Lernerfahrung, Motivation und letztlich zur Leistungssteigerung führen ist der Trainer hier gefragt. Ständig müsse dabei abgewogen werden, dass Aufgaben dabei herausfordernd, aber nicht überlastend seien, dass Feedback und gegebenenfalls Kritik Fortschritte verdeutliche und das Positive hervorgehoben werde, aber auch Motivationslöcher überbrückt werden, was vor allem durch abwechslungsreiches Training sowie Trainingspausen geschehen solle, die die Lust zur sportlichen Aktivität wieder fördern würden. Kulla weiß um die Bedeutung ihrer Aufgabe: „Ein Trainer sollte eine emotionale Stütze sein, wenn es mal nicht so läuft. Loslassen können, wenn der Athlet in späteren Entwicklungsstadien auf Entdeckungstour geht und für sich selbst mehr und anders lernen und erfahren möchte oder in andere Trainingsumgebungen aufsteigt. Auffangen können, wenn er mal wieder Bodenhaftung braucht. Seine Rolle situativ und der Entwicklung des jungen Menschen anpassen. Alles nicht einfach, aber wer hat gesagt, dass der Job eines Trainers immer einfach ist?“

Es sind zum einen die gezielten Maßnahmen, die am einzelnen geförderten Sportler ansetzen und dessen individuelle Leistungsentwicklung kontinuierlich vorantreiben sollen, damit am Ende die verbesserten Leistungen vieler Geförderter zu höheren Erfolgen und damit einer höheren Summe von Erfolgen zusammensetzen. Zum anderen geht es um die Auswahl der Geförderten, denn nur durch wiederholte Selektions- und De-Selektionsverfahren (Relegation) kristallisieren sich erfolgreiche Spitzensportler heraus. Dabei kann der „Talente-Pool“ durch Förderorganisationen oder Programme zur Talentsuche oder durch die Einbürgerung erfolgreicher ausländischer Sportler erweitert werden. Am Ende ist es immer ein Mischverhältnis aus beiden Ansätzen. Dabei stehe für die Sportorganisationen die langjährige und durchgängige Förderung im Fokus, wie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) in einem Konzept von 2010 beschreibt: „Der deutsche Leistungssport wird nur erfolgreich bleiben, wenn die Förderung von Talenten vom Nachwuchs bis zur Spitze durchgängig sichergestellt wird.“ Fast alle erfolgreichen Spitzenathleten wurden zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Sportlaufbahn in Förderprogramme eingebunden (siehe Emrich & Güllich, 2005). Eines eint Sportvereine, Sportfachverbände, Olympiastützpunkte, Eliteschulen, die Sporthilfe und deren Maßnahmen wie Trainerfinanzierung, Ausrichtung von Lehrgängen und Wettkämpfen und Laufbahnberatung: Sie wollen Talenten den Weg ebnen, um die Erfolgstreppe empor zu klettern. Gehen muss diese Treppe am Ende jedes Talent selbst.

„Ich möchte alle dazu ermutigen, den Mut zu haben, all diese Faktoren auf der Suche nach Talenten miteinzubeziehen und sich auch mal für Sportler einzusetzen,  die sich eher leise in den Vordergrund drängen“, so Müller, denn auch Rasmus Ankersen unterscheide zwischen den sogenannten „shouting talents“, die aufgrund ihrer herausragenden sportlichen Leistungen auffallen und den „whispering talents“, deren Leistung nicht auf den ersten Blick erkennbar sei, sondern vielleicht erst auf den zweiten: „Haben Sie Mut, auf die Person zu schauen und nicht nur auf das Ergebnis.“

 

Quellen:

Ankersen, R. (2012). The Gold Mine Effect. London: Icon Books.

Colvin, G. (2019). Talent is overrated. What erally seperates world class performers from everybody else. New York: Penguin Random House.

DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund) (2010). Nachwuchsleistungssport. Rahmenrichtlinien zur Förderung des Nachwuchsleistungssports. Frankfurt a. M.

Emrich, E. & Güllich, A. (2005). Zur „Produktion“ sportlichen Erfolgs. Organisationsstrukturen, Förderbedingungen und Planungsannahmen in kritischer Analyse. Köln: Strauß.

Ericson, K.A., Pool. R. (2016). Top - Die neue Wissenschaft vom Lernen. München: Pattloch.

Epstein, D. (2014). The Sports Gene – Talent, practice and the truth about success. New York: Penguin Random House.

Güllich, A. (2013). Talente im Sport. In: Güllich A., Krüger M. (eds) Sport. Bachelor. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg.

Hohmann, A. & Carl, K. (2002). Zum Stand der sportwissenschaftlichen Talentforschung. In A. Hohmann, D. Wick & K. Carl (Hrsg.) Talent im Sport (S. 3–30). Schorndorf: Hofmann.

 

 

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