Europameisterschaften
Bogen-EM München: Das Bogen-Gesicht von München 1972
Wenn am 11. und 12. Juni 2022 bei der Europameisterschaft in München die Pfeile über die Theresienwiese fliegen, wird eine ältere Dame unter den Zuschauenden sein, die vor 50 Jahren auf der ganzen Welt bekannt war und mit deren Bild man das Bogenschießen bei den Olympischen Spielen von 1972 in Verbindung brachte. Irene Lehner, heute 84 Jahre alt, ist die Bogenschützin auf dem berühmten gelben Olympiaplakat, das im Atelier der Grafikerlegende Otl Aicher entstand. Dessen Anspruch war es, „nicht nur den Kreis der Kulturnationen“ zu erfassen, sondern, wörtlich zitiert, „bis in den Busch hineinzuwirken mit dieser Plakatserie“.
Wenn im Spätsommer das eigentliche Jubiläum „50 Jahre Olympische Spiele“ in München mit Veranstaltungen und Ausstellungen groß gefeiert wird, werden die Plakate mit den 21 olympischen Sommersportarten im Mittelpunkt des Interesses stehen. Sie waren das zentrale optische Informationsmittel und sind – neben dem Olympiapark – die wichtigsten erhaltenen Zeugnisse des visuellen Erscheinungsbildes der Spiele.
Das Foto, auf dem das Motiv des Posters „Bogenschießen“ basiert, entstand bereits im Jahr 1967. Irene Lehner war damals noch gar nicht so lange Mitglied des 1. Münchner Bogenclubs (1. MBC), aber durch außergewöhnliche Leistungen aufgefallen und hatte gerade ihre erste Berufung zur Sichtung für die Nationalmannschaft erhalten, wie sie erzählt. Obwohl die Trainingsmöglichkeiten für den 1. MBC, der nur aus 11 Mitgliedern bestand, wirklich nicht besonders waren. „Wir übten samstags und sonntags auf der Bezirkssportanlage.“ Um Werbung für das Bogenschießen zu machen, kam sie auf die Idee, doch mal bei der in den 1960er Jahren weit verbreiteten, alle zwei Wochen erscheinenden „Sport-Illustrierten“ anzurufen und sie zu bitten, auch einmal über ein großes Bogenturnier zu berichten. Am besten über den bevorstehenden Länderkampf gegen die CSSR (heute Tschechien und Slowakei). Das war damals allerdings nicht ohne erheblichen Visa- und sonstigen bürokratischen Aufwand möglich, und die Sport-Illustrierte schickte einen Reporter und den renommierten Sportfotografen Max Mühlberger ins Trainingslager der Bogen-Nationalmannschaft nach Nürnberg. Dort schoss Mühlberger das Foto während einer Trainingseinheit. „Das Bild entstand nach dem Training, sie haben uns gesagt, wir sollen uns so und so hinstellen, und dann haben sie das Foto und noch ein paar andere gemacht“, berichtet Irene Lehner. Hand und Arm im Vordergrund und der große Bogen gehören zu Siegfried Ortmann, dem damals und später besten deutschen Bogenschützen, vielfachen Deutschen Meister, mehrfachen WM-Teilnehmer und 1972 Mitglied der Olympiamannschaft.
Das Bild erschien dann mit einigen anderen in der Sport-Illustrierten, auch mal in der Bild-Zeitung, die damit versehentlich den Bericht über eine für Deutschland erfolgreiche Feldbogen-EM schmückte, und 1969 in einem Lehrbuch über das Bogenschießen. Wie der Olympia-„Gestaltungsbeauftragte“ Otl Aicher an das Foto kam, ist nicht bekannt. Es befand sich wahrscheinlich im Katalog der Sportagenturen, die Aicher nach Motiven zu den einzelnen Sportarten anfragte. Jedenfalls erschien er persönlich eines Tages in der Sport-Scheck Filiale Waldtrudering, wo Irene Lehner als Verkäuferin arbeitete und eine Bogenabteilung aufbaute. Otl Aicher, so erzählt sie ganz unspektakulär, „zeigte mir einen Entwurf von dem Plakat und fragte mich, ob ich damit einverstanden sei“. Irene Lehner sagte ja und unterschrieb ein Schriftstück, womit sie wahrscheinlich alle Rechte abtrat. Als das Plakat dann auf den Markt kam und unübersehbar überall präsent war, bekam Irene Lehner dann noch Schwierigkeiten mit ihren Vereinskollegen, die ihr vorwarfen, gegen das Amateurstatut verstoßen zu haben. „Dabei habe ich weder damals noch später jemals einen Pfennig bekommen, nicht mal ein Plakat“, beteuert sie. Das schenkte ihr ihre Schwägerin, die bei Franzis-Druck in München arbeitete, wo das Poster hergestellt wurde.
Irene Lehner, das Gesicht des Bogenschießens bei den Olympischen Spielen 1972, hat es selbst nicht zum olympischen Turnier im Englischen Garten geschafft. Drei Jahre lang war sie die unangefochten führende deutsche Bogensportlerin, war Deutsche Meisterin und nahm an Europameisterschaften teil. Als ihr Sohn 1970 schwer verunglückte, schaltete sie einen Gang zurück, gründete 1972 den Bogenclub Hofolding südlich von München, in dessen Vorstand sie 40 Jahre wirkte. Jetzt freut sie sich auf die Finalwettkämpfe bei den Europameisterschaften auf der Theresienwiese. Wer noch ein Bogenplakat von 1972 zuhause hat, sollte es mitbringen – Irene Lehner wird gerne ihr Autogramm darauf schreiben.
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